Scheinselbstständigkeit in Deutschland – Interview mit Thomas Sattelberger
Als langjährige Führungspersönlichkeit ist Thomas Sattelberger mit den Problemen und Herausforderungen deutscher Unternehmen bestens vertraut. In der Vergangenheit setzte sich der FDP-Politiker auch immer wieder für Freelancer ein und fordert eine Vereinfachung der Statusfeststellung und eine damit verbunden höhere Rechtssicherheit für Selbstständige. Die hier herrschende Rechtslage führt seit Jahren zu erhöhter Unsicherheit. In unserem Interview gibt Herr Sattelberger spannende Einblicke in diesen relevanten Bereich.
Kleine Aufwärmrunde – stellen Sie sich unseren Lesern kurz vor:
40 Jahre war ich in der Wirtschaft. Davon 15 Jahre als Vorstand in großen Unternehmen: Telekom, Continental, Lufthansa. Beschäftigt haben mich stets die Themen Unternehmenstransformation und Talententwicklung. Seit 2017 bin ich Bundestagsabgeordneter und Sprecher für Innovation, Bildung und Forschung der FDP-Fraktion. Bei der Bundestagswahl 2021 kandidiere ich erneut und wieder auf einem sehr aussichtsreichen Listenplatz.
Warum ist Scheinselbstständigkeit in der Politik so ein kontroverses Thema?
Weil das dahinterliegende Thema Selbständigkeit das viel gewichtigere ist. Für SPD-Arbeitsministerinnen und -minister ist ja jeder Beruf jenseits abhängiger Beschäftigung ein Gräuel. Gerade beim Thema Arbeit will das Bundesarbeitsministerium am liebsten alles nach Schema F sortieren und normieren. Die Debatte über Scheinselbstständigkeit hat nur einen Zweck: möglichst viele Selbstständige in die Unselbstständigkeit zu bringen.
„Die Debatte über Scheinselbstständigkeit hat nur einen Zweck: möglichst viele Selbstständige in die Unselbstständigkeit zu bringen.“
Thomas Sattelberger
Dabei ist klar: natürlich gibt es unsittliche und ausbeuterische Praktiken der Scheinselbständigkeit, gegen die der Staat vorgehen muss. Aber er darf die schwarzen Schafe nicht missbrauchen, um die übrigen 95 Prozent unter Generalverdacht zu stellen.
Stehen Freelancer unter dem generellen Verdacht scheinselbstständig zu sein?
Aus Sicht der Obrigkeit: ja! Schließlich fehlen Selbständige als Beitragszahler in den staatlichen Rentensystemen. Dass sie selber vorsorgen müssen und können, taugt all jenen nicht, die jede Lebenssituation über Vater Staat regulieren wollen. Alterssicherungsformen wie Aktienanlagen und Wohneigentum, mit denen man sich unabhängig macht von staatlichen Wohltaten, gelten als geradezu anrüchig. Das zeigt auch die aktuelle Debatte über Vermögensteuer und -abgabe. Dabei ist angesichts der demografischen Entwicklung dieses Landes fatal, wenn der Staat Eigenvorsorge immer unattraktiver macht.
Welche Auswirkungen hat Scheinselbstständigkeit in Ihren Augen auf die Entscheidung in die Selbstständigkeit zu wechseln?
„Der Verdacht der Scheinselbstständigkeit hängt wie ein Damoklesschwert über allen, die sich gerne selbstständig machen möchten.“
Thomas Sattelberger
Der Verdacht der Scheinselbstständigkeit hängt wie ein Damoklesschwert über allen, die sich gerne selbstständig machen möchten. Und das ist so gewollt, siehe oben. Die Große Koalition tut alles, um neue freie Berufe möglichst zu verhindern und die abhängige Beschäftigung mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Ein ideologischer Zangengriff, der Innovation und Unternehmertum in Deutschland behindert.
Wie stehen Sie zu der aktuellen Praxis, mit dem Statusfeststellungsverfahren zu prüfen, ob eine Scheinselbstständigkeit vorliegt oder nicht? Führt dieses Verfahren zu ausreichend Rechtssicherheit?
Dieses Thema habe ich schon einige Male in Anträgen und Anfragen im Bundestag thematisiert. Das Statusfeststellungsverfahren führt vor allem zu konstanter Rechtsunsicherheit und damit Verunsicherung. Zumal mittlerweile gerade bei der digitalen Arbeit agile Arbeitsformen und agile Arbeitsorganisation (zum Beispiel SCRUM) in Unternehmen entstanden sind, die derzeitige Statusfeststellungskriterien wie etwa Weisungsgebundenheit völlig ad absurdum führen.
Das Statusfeststellungsverfahren muss vereinfacht werden – es braucht klare Vorgehensweisen und Eckpunkte. Werden derzeit weitere Gesetzesentwürfe zur Sozialversicherungspflicht von Selbständigen diskutiert? Wann könnte es eine Entscheidung und einen Erlass eines solchen Gesetzes geben?
Zu einer Entscheidung über die Sozialversicherungspflicht von Selbständigen wird es wohl vor der Bundestagswahl 2021 nicht mehr kommen. Die Mehrheitsverhältnisse der nächsten Legislatur stehen noch in den Sternen. Als Abgeordneter einer Partei, die Freiheit und Wettbewerb als elementare Säulen der Sozialen Marktwirtschaft ansieht, hielte ich es allerdings für fatal, wenn die Bundesregierung Selbständigen bei der Frage der sozialen Sicherung ihre Entscheidungsfreiheit nähme.
Ist Scheinselbstständigkeit ein Hemmnis für den Innovationsstandort Deutschland? Wenn ja, warum?
Die Debatte um Scheinselbständigkeit ist ein massiver Hemmschuh für den Innovationsstandort Deutschland. Freelancer, Solo-Selbständige, Klein- und Kleinstunternehmer sind Saatgut für Unternehmertum und Aufbau einer New Economy. Darüber hinaus sind sie oft Treiber von Veränderung in ansonsten erstarrten, Hierarchie-geprägten Unternehmens- und Verwaltungskulturen.
Gerade IT-ler sind häufig von der Scheinselbständigkeit betroffen. Was sagen Sie zu der These „Agile Projekte sind fast immer scheinselbständig.“?
Diese These ist richtig. Leider fehlt der digital unfähigen Ministerialbürokratie im BMAS der Durchblick bei den Beschäftigungsstrukturen einer digitalen Gesellschaft. Und die Ministeriumsspitze will ideologiedurchtränkt digitale Beschäftigungsstrukturen zerstören oder verhindern. Beide haben
nicht verstanden, dass das 20. Jahrhundert seit zwei Jahrzehnten
schon vorüber ist.
61 % der Selbstständigen wünschen sich eine Abschaffung der Scheinselbstständigkeit (Quelle: Freelancer-Kompass 2021). Was für Vorteile würde eine Abschaffung aus Ihrer Sicht bringen?
Wir brauchen eine Positivliste für Selbständigkeit statt des Damoklesschwerts Statusfeststellungsverfahren. So gewinnen wir Rechtssicherheit und incentivieren Unternehmertum. Deutschland hätte dies so nötig wie kaum ein anderes Industrieland.
Welche Entwicklungen sind in diesem Bereich in Zukunft zu erwarten?
Mit den Kolleginnen und Kollegen meiner Fraktion kämpfe ich für ein möglichst freies Unternehmer- und Freelancertum hierzulande. Ich hoffe, dass wir nach der Bundestagswahl in Regierungsverantwortung kommen und von dieser Programmatik möglichst viel umsetzen und in Gesetzesänderungen gießen können.
Möchten Sie sonst noch etwas zum Thema loswerden? Haben wir etwas Wichtiges vergessen?
Selbständigkeit und unternehmerische Erwerbsformen sollten in Deutschland bereits elementarer Bestandteil des Schulunterrichts sein. Stattdessen dominiert in vielen Schulbüchern der mitarbeiterfeindliche Unternehmer und die schutzsuchende Arbeitnehmerin. Mit einem solchen Mindset, von klein auf eingetrichtert, fehlt uns eine ganz wesentliche Kraft für die Transformation dieses Landes.
Herr Sattelberger, vielen Dank für das Interview!